4) Abschließende Bewertung

In der Beurteilung der Verantwortung von Dädalus und Otto Hahn zeigen sich viele Parallelen. Beide wollten mit ihrer Forschung Gutes erreichen. Daedalus erfand die Flügel, um endlich aus dem gehaßten Exil zu fliehen und um seinem Sohn Ikarus ein besseres Leben zu ermöglichen. Otto Hahn hatte mit seiner Entdeckung der Atomkraft im Sinn, die Menschheit wissenschaftlich und technisch voranzubringen.

Dieses Streben ist eine Grundvoraussetzung für einen Wissenschaftler: Sein Handeln muß auf das Wohl der Menschheit ausgerichtet sein. Wissenschaftler, die experimentieren, um andere Menschen z.B. auf Grund von Ideologien zu töten, sind verantwortungslos und haben den Sinn und Zweck des Forschens bzw. des Erfindens nicht erkannt.

Natürlich muß man auch Kritik an Otto Hahn und Daedalus üben:

Daedalus war von der Idee besessen, endlich von Kreta wegzukommen. Er bediente sich der Luft, einem Bereich der nach antikem Denken nur den Göttern zustand.

Er maßte sich an- so wird es uns von Ovid durch den Begriff "naturam novare" mitgeteilt- die Gesetze der Natur erneuern zu können. In diesem Forscherdrang achtete er nicht auf den jugendlichen Leichtsinn seines Sohnes, Ikarus.

Auch wußte er, daß seine Künste gefährlich sind. Daedalus duldete aber trotzdem, daß sein Sohn mit ihm flog.

Otto Hahn war von der Idee geleitet, die Kernenergie zu finden. Dieses wissenschaftliche Ziel wurde durch die Entdeckung der zahlreichen Elemente und der damit verbundenen Preise bestärkt. Hahn verschloß sich aber damit der politischen Realität. Deutschland stand vor einem Krieg und hätte folglich mit Hilfe seiner Erfindung atomare Waffen einsetzen können. Aber auch andere Mächte hätten seine Erfindung mißbrauchen können - wie es dann die Amerikaner im Krieg gegen Japan gemacht haben.

So läßt sich beiden vorwerfen, daß sie ihre Wissenschaften ohne ausreichende, präventive Maßnahmen herausgegeben haben. Doch ermahnte Daedalus immerhin seinen Sohn vor Antritt des Fluges eindringlich. Sind dies nicht ausreichende Maßnahmen ? Und damit stellt sich natürlich die Frage, was ein Wissenschaftler überhaupt mehr tun kann. Muß er denn mit Blick auf den Anwender äußerste Vorsicht walten lassen bei seinen Erfindungen, damit diesem nichts zustößt ?

Wissenschaftler können lediglich Empfehlungen abgeben, wie ihre Technik zu gebrauchen ist, für die richtige Anwendung können sie nicht sorgen. Dies ist auch nicht ihre eigentliche Aufgabe. Sie sollen wissenschaftlichen Fortschritt garantieren, der für die Gesellschaft von lebenswichtiger Bedeutung ist. So entsteht heute ein wesentlicher Anteil des elektrischen Stromes aus Kernergie. Bezogen auf Daedalus und Ikarus wäre der wissenschaftliche Fortschritt die sichere Heimkehr nach Athen gewesen.

Die Entscheidung über den Gebrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse bleibt dem Anwender überlassen. Er entscheidet über "gut" und "böse", trägt aber auch die volle Verantwortung für sein Handeln.

Es ist Ikarus in der ovidschen Metamorphose, der den Fehler begeht. Er widersetzt sich der Mahnrede seines Vaters. Will er das Gefühl genießen, höher zu gehen, muß er auch die Konsequenzen tragen. Der Drang, neues zu erfahren, beinhaltet gleichzeitig, für die Konsequenzen einzustehen. Ähnliches trifft auf die Amerikaner zu: Sie haben ihre Ziele skrupellos durchgesetzt.

Hierzu war ihnen jedes Mittel recht. Für die enstandenen Folgen, von denen manche auch noch heute aktuell sind, müssen sie sich verantwortlich sehen.

Wir sind eine Gesellschaft, die den technischen Fortschritt liebt und von ihm abhägig ist. Diese Eigenschaft fordert uns auf, verantwortungsvoll zu handeln.

Natürlich könnte man von den Wissenschaftlern vorgeschlagene Strukturmechanismen einbauen, um eine "Ausbeutung" der Erkenntnisse zu verhindern. Doch wird es immer wieder einzelne- wie Ikarus- oder Gruppierungen- wie die Amerikaner- geben, die sich den Forderungen widersetzen.

Also muß unter den Menschen ein höherer Grad von Verantwortungsbewußtsein entstehen:

Dies zeigt sich an dem Symbol Ikarus: er muß lernen bodenständig, zu bleiben und nicht in den Bereich der Götter abzuheben. Seine äußerste Maxime sollte die Vernunft sein.

Nicht darf er sich seinen persönlichen Interessen hingeben, sondern muß sein Handeln auf mögliche Konsequenzen abwägen.

Auf Grund dieser Auffassung entkräfte ich diejenigen Argumente, die Daedalus und Otto Hahn für teilschuldig hielten, und bin der Meinung, daß sie beide Vorbilder für verantwortungsvolle Wissenschaftler sind und für die technischen Katastrophen nicht verantwortlich gemacht werden können.

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