2.2) Interpretation der Metamorphose

Um die ovidsche Metamorphose hinsichtlich der Verantwortung des Daedalus gegenüber seinem Sohn Ikarus interpretieren zu können, ist es sinnvoll, einzelne besonders für die Fragestellung wichtige Stellen des lateinischen Textes, heranzuziehen.

Eine dieser Stellen ist der Vers 187:

Dieser Vers zeigt sehr deutlich durch Stilmittel und Inhalt die Entschlossenheit des Daedalus, Flügel zu bauen und Kreta auf dem Luftwege zu verlassen:

" Omnia possideat, non possidet aera Minos. "         

Übersetzung

 

Hier gibt Ovid die Meinung des Daedalus wieder, daß der Machtbereich des Minos eingeschränkt ist. Daedalus billigt Minos zu, auf Kreta über alle Einwohner zu herrschen und auf Grund seiner Machtposition einen großen Besitz sein Eigen zu nennen. Doch über die Luft kann selbst dieser nicht herrschen.

Stilistisch verdeutlicht Ovid die Einschränkung des minoischen Machtbereichs mit Hilfe einer chiastischen Antithese. Auf Grund der Objekt- Prädikat Anordnung kommt es, wenn die beiden Hauptsätze verglichen werden, zu einem Chiasmus. Die Anthithese liegt in der Gegensätzlichkeit der beiden lateinischen Begriffe "omnia" und "aera" begründet. Außerdem sind die beiden Prädikate "possideat" und "possidet" , und damit die zugehörigen Hauptsätze, nicht nur durch das verneinende " non", sondern auch durch die metrische Hauptzäsur des vorliegenden Hexameter, die Dihärese, voneinander getrennt.

Durch die stilistische, inhaltliche und auch metrische Gegensätzlichkeit der beiden Hauptsätze wird die Kühnheit des Daedalus verdeutlicht. Er gibt sich nicht damit zufrieden, daß Minos ihm den Wasserweg nach Athen versperrt. Für ihn soll die Luft das Medium seiner Flucht werden. Dieses Ansinnen grenzt an Hybris. Fliegen galt nämlich zur Zeit des Ovid als eines nur den Göttern zustehendes Handeln. Somit dringt Daedalus in seiner geplanten Inanspruchnahme des Luftraums, in den Bereich der Götter vor. Dies ist eine nach antikem Denken überaus anmaßende Vorstellung. Diese anmaßende Vorstellung spiegelt sich auch in dem Klimax wieder, welches Ovid in den beiden vorhergehenden Versen (185- 186) verwendet: "terras, undas, caelum". Für den kühn denkenden Daedalus gibt es keine ihm gesetzten Grenzen. Der Himmel steht allen offen (v. 186), nicht nur den Göttern. Der Erfinder will zu dem höchsten Punkt des Klimax, dem Himmel, und sich nicht mit Erde und Wasser zufrieden geben.

Um nun also den unermeßlichen Luftraum zu erobern, muß Daedalus seine künstlerischen Fähigkeiten, mit denen Ovid ihn charakterisiert , auf die unbekannten Künste des Luftraum lenken (v. 188-189):

"dixit et ignotas animum dimittit in artes

naturamque novat"

Übersetzung

 

Unbekannt sind diese deswegen, weil noch kein Mensch vor ihm geflogen ist, was Ovid durch eine großes Hyperbaton hervorhebt (ignotas... artes).

Durch die Erforschung der bisher nicht beherrschten Künste, den Luftraum zur Fortbewegung zu nutzen, revolutioniert er gleichermaßen die Naturgesetze. Daedalus macht also "etwas Neues, Unerhörtes" mit der Natur.

Deshalb verwendet Ovid hier den mit einer Alliteration hervorgehobenen lateinischen Ausdruck "naturam novare". Diese Wortwahl bringt die Kühnheit von Daedalus gut zum Ausdruck. Die Naturgestze konnten nach antiker Vorstellung nicht außer Kraft gesetzt werden, da die Natur eine feste, immer fortdauernde Ordnung hat. Die Natur zu erneuern ist ausgeschlossen. Daedalus versucht die dem Menschen "gesetzten Grenzen" zu durchbrechen.

Beim Bau der Flügel präsentiert uns Ovid nun zuerst den Vater (v. 189-205) und später die Reaktion des Sohnes auf das Neue (v. 195- 202):

 

"nam ponit in ordine pennas, (189)

a minima coeptas, longam breviore sequenti,

ut clivo crevisse putes: sic rustica quondam

fistula disparibus paulatim surgit avenis.

tum lino medias et ceris adligat imas,

atque ita conpositas parvo curvamine flectit,

ut veras imitetur aves. puer Icarus una (195)

stabat et ignarus sua se tractare pericla

ore renidenti modo, quas vaga moverat aura,

captat plumas, flavam modo pollice ceram

mollibat lusuque suo mirabile patris

inpediebat. (200)

Übersetzung

 

Den Gegensatz zwischen Daedalus, dem Vater, dem Techniker, und Ikarus, seinem unbekümmerten, erstaunten Sohn macht Ovid schon anhand zweier Worte deutlich:

Daedalus wird uns hier als der geniale Erfinder präsentiert und hat deshalb den Beinamen "opifex" (v. 201), Ikarus dagegen wird von Ovid wegen seines jungen Alters und seiner Kindlichkeit "puer" (v. 195) genannt.

 

Weiterhin kontrastieren die beiden in ihrem Verhalten:

Während Daedalus kunstvoll seine "Hirtenflöte" (v. 192- 193) zusammenbaut, was Ovid durch die vielen "i" Vokale klanglich ausmalt, und tief in seine Arbeit versunken ist,

hascht Ikarus nach den Flaumfedern, die durch die Luftströme bewegt worden sind (v. 198). Ferner wirkt er sehr destruktiv gegenüber dem Werk seines Vaters , da er z.B. das Wachs, das Daedalus zum Stabilisieren der Flügel benötigt (v. 193), zusammenknetet (v. 198). Dieser kindliche Vorgang wird zum einen durch das Hyperbaton (v. 198 "flavam... ceram") und zum anderen durch die beiden hintereinander folgenden ce- Laute (v. 198: "pollice ceram") hervorgehoben. Des weiteren zeigt sich der Gegensatz zwischen Daedalus und Ikarus in der Verwendung der Tempora. Ovid präsentiert die kunstvolle Zusammensetzung der Flügel im historischen Präsens (bis v. 195). Jetzt kommt abrupt der unwissende Sohn hinzu. Sein Erstaunen beschreibt Ovid im Imperfekt, was hier die Funktion eines "Hintergrundtempus" hat. Der Dichter rückt Ikarus in den Hintergrund, weil das technische Meisterwerk für diesen unbegreiflich bleibt.

Überdies werden die Tätigkeiten von Daedalus und Ikarus, und damit auch die Personen, metrisch gegeneinander abgegrenzt (v. 199-200).

Ovid setzt hier eine Hephthemimeres zwischen "lusuque suo" und "mirabile patris".

So sollen klar das Spiel des Ikarus mit den Federn und dem Wachs ("lusuque suo") gegen die kunstvoll beschriebene Erfindung des Daedalus (" mirabile opus") abgegrenzt werden.

Schließlich bringt Ovid die Gegensätzlichkeit der beiden Handlungen klar zum Ausdruck durch ein deutliches, vorangestelltes "inpediebat" (v. 200).

Mit dem Kontrast zwischen Daedalus und Ikarus, den Ovid hier auf drei Ebenen ausführt (Inhalt, Tempuswahl, Metrik), soll dem Leser verdeutlicht werden, daß Daedalus kunstvolle Flügel bauen kann; für den kindlichen Ikarus sind sie nur ein Spiel, er versteht sie nicht und stört durch seine naive Art die geniale Flügelerfindung des Vaters. Für die naive Darstellung des Ikarus benutzt Ovid zusätzlich in den letzten beiden Versen (v. 201-202), in denen der erste Flugvorgang des Daedalus dargestellt wird, die für unsere Ohren seltsam klingende Wendung:

 

"...motaque pependit in aura".

Übersetzung

 

Dieser Ausdruck ist von Ovid deshalb so "naiv" gewählt, da der fliegende Vater uns aus der Sicht des Sohnes beschrieben wird.

Um sicherzustellen, daß auch Ikarus schadlos nach Athen fliegt, unterweist ihn Daedalus in die Künste des Fliegens (v. 203: "instruit et natum"):

 

"medio",que, "ut limite curras, (203)

Icare",ait, "moneo, ne si demissior ibis

unda gravet pennas, si celsior, ignis adurat.

inter utrumque vola, nec te spectare Booten

aut Helicen iubeo strictumque Orionis ensem:

me duce carpe viam. (208)

Übersetzung

 

Hierzu ist es seiner Auffassung nach besonders wichtig, den Sohn auf die entscheidenden Fehler beim Flug hinzuweisen.

Erstens verbietet er Ikarus , zu nah an die Sonne zu fliegen (v. 205: "si celsior"), die durch ihre Hitze das Wachs der Flügel aufweichen könnte, und zweitens soll er - auf Grund des vorhandenen Wellengangs - nicht zu tief fliegen (v. 204: "si demissior ibis") . Am besten ist es also schön in der Mitte zwischen Sonne und Wasser zu fliegen (v. 206: "inter utrum vola").

Dieser Aufforderung verleiht Ovid einerseits dadurch Nachdruck, daß er Daedalus in der Mitte von Vers 204 ein deutliches " moneo,ne" zu Ikarus sprechen läßt. Außerdem betont der Dichter die so wichtige Mitte während des Fluges durch ein Hyperbaton (v. 203: "Medio...limite"). Die beiden entscheidenden Fehlerquellen werden dem Sohn durch einen klaren parallelen Aufbau veranschaulicht. So folgt der Bedingung im ersten si- Satz (v. 204: "si demissior ibis) der mögliche, tragische Ausgang (v. 205: "unda gravet pennas"). Auf die Bedingung im zweiten si- Satz (v. 205: "si celsior") kommt ebenfalls direkt die Katastrophe (v. 205: "ignis durat"). Am Anfang von Vers 206 faßt Daedalus seine Ermahnungen an Ikarus - weder zu hoch noch zu tief zu fliegen- noch einmal zusammen ("inter utrumque vola"). Zusätzlich ermahnt er ihn noch, daß er nicht die Sternbilder Bootes, Helice und das Schwert des Orion während seines Fluges anschauen (v. 206-207), sondern einfach nur seinem Vater folgen soll (v. 208: "Me duce carpe viam"). Fasst man die ganzen Ermahnungen zusammen, so läßt sich feststellen, daß Daedalus seinen Sohn Ikarus der Situation angemessen einweist.

Aber Daedalus ist nicht nur der geniale Techniker, der die Gefahren erkennt, sondern auch ein Vater, der sich um seinen Sohn kümmert. Er weiß, daß seine Techniken gefährlich sind und bei Mißbrauch zum Tod führen können. Durch die Liebe zu seinem Sohn (v. 211: "dedit oscula nato") ergibt sich folglich eine gewisse "Skepsis" gegenüber seiner eigenen Erfindung. Diese Skepsis wird uns in der väterlichen Angst präsentiert:

inter opus monitusque genae maduere seniles (210)

et patriae tremuere manus. (211)

Übersetzung

 

Die greisen Wangen werden feucht (v. 210: "genae maduere seniles) und die väterlichen Hände beginnen zu zittern (v. 211: "patriae tremuere manus"). Diese Beschreibung läßt uns die emotionale Situation des Vaters besonders gut mitverfolgen. Zusätzlich wählt Ovid hier noch einen Vergleich aus der Tierwelt (v. 213- 214).

"ante volat comitique timet, velut ales, ab alto (213)

quae teneram prolem produxit in aera nido" (214)

Übersetzung

 

Die sich sorgende Vogelmutter (v. 213: "ales") führt behutsam ihre zarte Brut (v. 214: "prolem") aus dem Nest (v. 214: "nido) in die Luft (v. 214: "in aera"). Diese Ängste einer Vogelmutter hat auch Daedalus: Er fürchtet um seinen Sohn und Begleiter, Ikarus (v. 213: "ante volat comitique timet").

Als Daedalus und Ikarus auf dem Flug in ihre Heimatstadt Athen bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt haben ( Ovid nennt hier sogar bestimmte Inseln im Ägäischen Meer wie z.B. in Vers 221 Samos und Delos) kommt es - eingeleitet durch ein cum- inversivum- zum tragischen Ende:

 

"cum puer audaci coepit gaudere volatu (223)

deseruitque ducem caelique cupidine tractus

altius egit iter: rapidi vicinia solis

mollit odoratas, pennarum vincula, ceras" (226)

Übersetzung

 

Ikarus fliegt- entgegen der Warnung des Daedalus (v. 203- 205)- zu hoch (v. 225: "altius egit iter"). Geleitet wird er durch die Freude am kühnen Flug (v. 223: "audaci coepit gaudere volatu") und vom Drang nach dem Himmel (v. 224: " caelique cupidine tractus"). Seine Künheit, die ihn dazu verführt, höher zu steigen und dem Himmel näher zu kommen, bringt Ovid durch eine Enallage zum Ausdruck: Nicht der Flug ist kühn, sondern Ikarus selbst wird zum kühnen Jungen, der Lust hat auf ein Abenteuer. Er will sein Gefühl, das ihm der Flug beschert, voll ausreizen.

In seiner Person wird hier ein ganz zentrales Problem der ovidschen Metamorphose deutlich. Ikarus handelt nämlich in diesem Fall nicht nach seinem rationalen Verstand, der ihm die Einhaltung der Flugmitte befohlen hätte, sondern nach seiner Begierde bzw. Lust, noch höher zu steigen, d.h. Unbekanntes zu erforschen. Er möchte die Grenzen der neuen Technik austesten.

Seine Kühnheit gerät in das Ausmaß einer absoluten Selbstüberschätzung, einer Hybris.

Ikarus will zum Himmel hinauf. Dieser Bereich stand - nach antikem Denken - nur den Göttern zu, Menschen hatten keinen Zutritt. Dadurch verstößt Ikarus nicht nur gegen die Gesetze des Fliegens und gegen die gutgemeinten Warnungen seines Vaters, sondern auch gegen die ehernen Regeln der antiken Gotteswelt. Die Folgen dieser sind fatal:

Die Sonne weicht das Wachs der Flügel auf (v. 225- 266: "rapidi vincina solis mollit odoratas"). Die Ausweglosigkeit des Ikarus versinnbildlicht Ovid durch drei ineinander verschlungene Hyperbata (v. 229- 230):

"oraque caerula patrium clamantia nomen (229)

excipiuntur aqua"

Übersetzung

 

An dieser Stelle sind nämlich "oraque" und das PPA "clamantia" durch den Ausdruck "caerula patrium" gesperrt. Das Gleiche gilt für "caerula" und sein Beziehungwort "aqua" durch "patrium clamantia nomen excipiuntur" sowie "patrium" und das Substantiv "nomen" durch "clamantia". Es läßt sich erkennen, daß die einzelnen Hyperbata untereinander verwoben bzw. verschlungen sind. Das Unglück ist passiert, es gibt kein Zurück mehr. Wer hat nun Schuld ? Daedalus oder Ikarus? Diese Frage gilt es im nächsten Teil zu erörtern.

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