2.3) Fazit der Interpretation

 

Ovid sieht Daedalus in dessen Hybris als verblendet an. Diese Verblendung wird darin deutlich, daß sich Daedalus anmaßt, in einen ihm nicht zustehenden Bereich, nämlich die Luft, forzustoßen (v. 187).

Der Luftraum aber war den Göttern vorbehalten. Daedalus versucht, sich in seinem Forscherdrang den Göttern gleichzusetzen, er will eine Fertigkeit erfinden, die nur den Göttern zusteht.

Die Hybris des Daedalus ist für den weiteren Handlungsverlauf von großer Bedeutung. Sie versperrt ihm den Blick für die Distanz zwischen ihm, dem Erfinder und seinem naiven Sohn.

Für Daedalus ist die Erforschung der unbekannten Künste, also der Bau der Flügel problemlos. Kunstvoll fügt er diese zusammen (v. 189- 194) und hat auch keine Schwierigkeiten bei seinem ersten Flugversuch (v. 201-202).

Daedalus verkennt aber, daß Ikarus zu jung ist, um die Flügel verantwortungsbewußt zu handhaben. Der Sohn begreift sie nur als Chance zum Spiel (v. 195-200). Die Distanz zwischen den beiden wird ganz deutlich:

Auf der einen Seite der geniale Vater, der fähig ist, die Gesetze der Schwerkraft zu überwinden, und auf der anderen Seite der Sohn, der die Erfindung in seiner Kindlichkeit nur zum Spiel nutzt.

Daedalus ist sich der Gefahr seiner Technik durchaus bewußt. Die daraus resultiernde Angst beschreibt Ovid in den Gefühlen des zitternden Vaters (v. 210- 211) und mit dem Vogelvergleich (v. 212- 216). Er weiß also genau, daß eine verantwortungsloses Handeln Ikarus sofort in den Tod stürzen kann.

Aber die Erkenntnis der "Ambivalenz der Technik" wird auch durch seinen Hochmut, die Gesetze der Natur außer Kraft setzen zu können, verdeckt.

So muß man auf der einen Seite feststellen, daß Daedalus seiner Verantwortung als Wissenschaftler nicht ausreichend gerecht wurde, da er seinen kindlichen Sohn- trotz Bedenken- mitfliegen ließ.

Er hätte dem noch unreifen Sohn auf Grund der kindlichen- und dadurch auch gefährlichen- Unbekümmertheit das Fliegen nicht nahebringen dürfen, zumal er die Gefahr der neuen Technik nur aus seiner Gedankenwelt gedrängt hatte. Hier wäre es sinnvoll gewesen, die geistige und körperliche Entwicklung des Ikarus abzuwarten sowie eine technische Vervollkommung, auch wenn sich dadurch die Rückkehr in die geliebte Heimatstadt verzögert hätte.

Allerdings muß man Daedalus zu gute halten, daß er sich und seinen Sohn endlich aus dem Exil in Kreta (v.183: " Creten longumque perosus exilium") befreien will.

Bei dem Gedanken, aus Kreta zu fliehen, denkt er nicht nur an sich selbst, sondern auch an seinen Sohn, dem er in der Stadt Athen ein besseres Leben als das auf Kreta bieten will.

Er will sich nicht mehr zusammen mit seinem Sohn von der minoischen Gewaltherrschaft unterdrücken lassen, sondern endlich in das die Freiheit symbolisierende Athen zurück.

Die daedalische Beziehung zu Athen ergibt sich nicht nur durch eine Abneigung gegenüber Kreta. Ovid beschreibt sie als " Liebe zur Heimatstadt" (v. 183: " tactusque loci amore"). Dadurch läßt der Dichter uns gefühlsmäßig die Situation miterleben, in der Daedalus sich befindet.

Seine Motive, sich in die unbekannten Künste zu stürzen, und damit in gefährlicher Weise die Gesetze der Natur zu revolutionieren, beruhen nicht auf egoistischen Interessen. Er hat das natürliche Bedürfnis, endlich nach Jahren seine Heimatstadt wiederzusehen, natürlich zusammen mit seinem Sohn.

 

Auf der anderen Seite hat auch Ikarus zu dem fatalen Ausgang beigetragen. Er hat als Benutzer der neuen Technik die Möglichkeit, sich besonnen zu verhalten oder seine Lust. bzw seinen Trieb voll auszuleben, oder - wie es Friedrich Maier treffend formuliert- " sich für den guten, bald den bösen Weg zu entscheiden".

Ikarus wählt den letzteren, der dann zu dem Unglück führte.

Die Tatsache, daß Ikarus zu jung und unbekümmert ist, wird durch die präventive Einweisung durch Daedalus zumindest teilweise abgeschwächt.

Hier wird ihm nämlich exakt mitgeteilt, was die Folgen seines Handelns sein werden (v. 203- 208).

Er aber widersetzt sich den Warnungen des Vaters, und will zum Himmel hinaufsteigen , sich von der Führung des Vaters losreißen. Dadurch erfährt er eine von ihm selbst "mitverschuldete Bestrafung". Auch Michael von Albrecht hält Ikarus für teilschuldig, da er von dem "entscheidenden Fehler des Ikarus" spricht.

Stärker als sein Vater ist Ikarus von der Hybrisproblematik betroffen. Er möchte nämlich aus eigenen Interessen, ohne dabei an den Vater zu denken, in seiner übermütigen Weise wirklich in den Bereich der Götter vorstoßen (hier der Himmel: v. 224: " caelique cupidine tractus"), um diesen zu erkunden.Sein Vater hingegen wollte vorangig nur die Möglichkeit schaffen, in die Heimatstadt zurückzukehren.

Somit kommen wir zu einer allgemeingültigen Kernaussage der ovidschen Metamorphose:

Dem Anwender von Technik stellt sich ein "Technik- Freiheits- Problem" . Er allein hat die Entscheidung zur maßvollen und vernüftigen Anwendung oder zu der eines Ikarus. Der verantwortungsvolle Anwender wird nicht bis an die Grenzen des technischen Werkes gehen oder gar darüber hinaus.

An der Person des Ikarus wird das Versagen eines Menschen deutlicht, der trotz gutgemeinter Warnungen in verantwortungsloser Weise die Grenzen des technischen Werkes überschreitet, und dadurch sich und anderen Unglück bringt.

 

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